Nomophobie auch in Deutschland weit verbreitet
Eine übermäßige Smartphone-Nutzung kann negative psychische Folgen haben, beispielsweise Nomophobie, die Angst, nicht erreichbar zu sein. Eine an der PFH Private Hochschule Göttingen durchgeführte Studie von Melina Coenen und Yvonne Görlich konnte nun nachweisen, dass Nomophobie auch in Deutschland weit verbreitet ist. Für eine Folgestudie werden jetzt Teilnehmende gesucht.
Smartphones sind ein fester Bestandteil unseres täglichen Lebens. In Deutschland nutzten 2021 insgesamt 63 Millionen Menschen ein Smartphone, das entspricht rund 78 Prozent der Bevölkerung [1]. Die durchschnittliche Smartphone-Nutzung lag bei drei Stunden und 49 Minuten pro Tag [2]. Nomophobie steht für "no mobile phone phobia". Sie tritt vor allem bei exzessiver Smartphone-Nutzung auf und beschreibt die Angst, vom eigenen Smartphone getrennt zu sein. Eine an der PFH durchgeführte Studie konnte nun nachweisen, dass Nomophobie auch in Deutschland weit verbreitet ist. „Bisher gab es in Deutschland kein geprüftes diagnostisches Instrument für Nomophobie“, sagt Prof. Dr. Yvonne Görlich, Professorin für Psychologische Diagnostik und Differentielle Psychologie an der PFH Private Hochschule Göttingen. Als Nomophobie-Test fand nun ein Fragebogen Verwendung: „Für unsere Studie haben wir den international häufig eingesetzten Fragebogen Nomophobia Questionnaire NMP-Q [3] übersetzt und validiert“, so Görlich. Dieser Fragebogen erfasst die Stärke von vier Dimensionen, die für „Smartphone-Entzug“ typisch sind: (1) "Nicht kommunizieren können", (2) "Verbindungsverlust", (3) "Nicht auf Informationen zugreifen können" und (4) "Komfortverzicht". Diese Faktoren korrelieren unterschiedlich stark mit Persönlichkeitsmerkmalen, wie Gewissenhaftigkeit, Offenheit oder Neurotizismus aber auch mit Angst und Stress.
Nomophobie als eigenständige Störung
Die Studie der PFH ergab, dass fast die Hälfte der Teilnehmenden (49,4 %) ein mittleres Maß an Nomophobie aufwies, weitere 4,1 % eine schwere Nomophobie. Obwohl es Überschneidungen mit der Smartphone- und Internetsucht gibt, stellt Nomophobie ein eigenständiges Konstrukt dar. „Geht das Handy verloren oder ist man aufgrund eines Funklochs oder eines leeren Akkus kurzzeitig nicht erreichbar, kommt es zu einem subjektiv verschobenen, übermäßigen Angstempfinden“, erläutert Prof. Dr. Yvonne Görlich. „Smartphone-Abhängigkeit zählt zu den Suchterkrankungen, während Nomophobie eine Angststörung ist“, erläutert die Psychologin den Unterschied. Die Betroffenen erleben in erster Linie einen Kontrollverlust über ihre Smartphone-Nutzung, der sich auf andere Bereiche ihres Lebens auswirkt. „In früheren Studien wurden signifikante Zusammenhänge zwischen Nomophobie und Einsamkeit, Depression, Ablenkung und verminderter Impulskontrolle festgestellt“, so Görlich. Ein weiteres Phänomen, das eng mit der Nomophobie zusammenhängt, ist die Angst, etwas zu verpassen, die sogenannte Fear of Missing Out (FoMO).
Teilnehmende für weitere Nomophobie-Studie gesucht – Smartphone-Fasten
Mit einer weiteren Studie soll jetzt untersucht werden, inwieweit eine kontrollierte Smartphone-Nutzung Nomophobie, aber auch Depressions-, Angst und Stresssymptome reduzieren sowie Wohlbefinden und Kreativität fördern kann. Für die Online-Studie werden Teilnehmende ab 18 Jahren gesucht, die ihr Smartphone mindestens zwei Stunden täglich nutzen und bereits einen Leidensdruck verspüren. „Wir suchen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Nomophobie-Symptome aufweisen wie Stress und Beklemmung bei ausgeschaltetem Mobiltelefon, Angstzuständen bei leerem Akku, aufgebrauchtem Datenvolumen, bei Unerreichbarkeit oder einem Gefühl der Panik, wenn das Smartphone zu Hause gelassen wurde“, erklärt Prof. Dr. Yvonne Görlich. Die Teilnehmenden sollen zu drei bzw. vier Zeitpunkten im Abstand von je zwei Wochen jeweils eine ca. 15-minütige Umfrage ausfüllen. Dabei werden zwei zufällige Gruppen gebildet, die ihr Smartphone kontrolliert nutzen sollen. Dabei geht es nicht darum, ganz auf das eigene Smartphone zu verzichten, sondern es bewusst zu nutzen (z.B. tägliche Smartphone-Nutzung nicht länger als 2 Stunden). Ab sofort kann an der Studie anonym teilgenommen werden.
Hier gelangen Sie zur Studie. Bis zum 19. März 2023 ist ein Studienbeginn möglich.
„Die Studie bietet Teilnehmenden die Chance, Smartphone-Fasten auszuprobieren und ihr Nutzungsverhalten zu kontrollieren sowie ihr Befinden zu dokumentieren“, erläutert die Forscherin.
Weitere Studienergebnisse: Frauen stärker betroffen
Die Studie von Melina Coenen und Yvonne Görlich ergab weiterhin, dass Männer im Durchschnitt einen Nomophobie-Wert von 54 erreichten und Frauen von 63. Ohne ihr Smartphone fühlen sich Betroffene unwohl, sind nervös, ängstlich oder gereizt. Dabei zeigten Frauen bei den Faktoren „Nicht kommunizieren können“ und „Komfortverzicht“, signifikant höhere Werte als Männer. „Wir können davon ausgehen, dass Frauen aufgrund eines stärkeren Bedürfnisses nach sozialen Beziehungen das Smartphone stärker zur Kommunikation nutzen und somit höhere Nomophobie-Scores erzielen“, erläutert Görlich. Bei der Häufigkeit der Smartphone-Nutzung gab es keine signifikanten Unterschiede aber Frauen waren länger mit dem Smartphone beschäftigt als Männer.
Nomophobie bisher keine anerkannte Krankheit
Noch gilt Nomophobie jedoch nicht als anerkannte Krankheit. „Angesichts der so weit verbreiteten Smartphone-Nutzung und internationaler Studienergebnisse liegt die Frage nahe, ob Nomophobie in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) oder das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM) aufgenommen werden sollte und damit als Angststörung anerkannt wird“, so die Forscherin. Im ICD sind auch spezifische Phobien wie beispielsweise Arachnophobie, die sogenannte Spinnenphobie, aufgelistet. „Die technischen Veränderungen und ihre psychischen Folgen zeigen sich z.B. darin, dass im seit 2022 gültigen ICD-11 die Computerspielsucht in der Rubrik Verhaltenssüchte neu aufgenommen wurde“, so Görlich weiter.
Über die Nomophobie-Studie
An der Studie “Exploring nomophobia with a German adaption of the nomophobia questionnaire (NMP-Q-D)” nahmen insgesamt 807 freiwillige Probanden teil (Durchschnittsalter 25 Jahre), 50 von ihnen fünf Monate später erneut. Die mit der Studie abgefragten Nomophobie-Werte können zwischen 20 und 140 liegen, wobei höhere Werte einer stärkeren Ausprägung der Nomophobie entsprechen. Ein Wert von 20 bedeutet keine Nomophobie, Werte zwischen 21 und 59 entsprechen einer leichten, 60 und 99 einer mittleren und 100 oder mehr einer schweren Nomophobie. Alle Personen mit einer schweren Nomophobie nutzten ihr Smartphone täglich länger als zwei Stunden.
Es zeigte sich, dass Nomophobie sowohl mit Smartphone-Sucht als auch mit der Angst, etwas zu verpassen (Fear of Missing Out: FoMO) signifikant positiv korreliert. Auch Neurotizismus war positiv mit Nomophobie assoziiert, während Gewissenhaftigkeit und Offenheit leicht negativ assoziiert waren. Angst korrelierte signifikant positiv mit dem Faktor "Nicht kommunizieren können" und Stress zusätzlich mit dem Faktor „Komfortverzicht". Die Befragten nutzten ihr Smartphone durchschnittlich 64-mal bzw. 4 Stunden und 16 Minuten pro Tag.
Die Studie wurde im Dezember 2022 in der internationalen, multidisziplinären Online-Fachzeitschrift PLOS One publiziert: Coenen M, Görlich Y (2022) Exploring nomophobia with a German adaption of the nomophobia questionnaire (NMP-Q-D). PLoS ONE 17(12): e0279379. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0279379.
Quellen
1. Statistica. Number of smartphone users in Germany from January 2009 to 2021. 2021 Dec 13 [Cited 2023 January 17]. https://www.statista.com/statistics/461801/number-of-smartphone-users-in-germany/
2. Statistica. Durchschnittliche tägliche Smartphone-Nutzung nach Apps 2020. 2021 Nov 10 [Cited 2023 January 17]. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1186676/umfrage/durchschnittliche-taegliche-smartphone-nutzung-nach-apps/]
3. Yildirim CF, Correia AP. Exploring the dimensions of nomophobia: Development and validation of a self-reported questionnaire. Computers in Human Behavior. 2015; 49: 130–137.
Mehr über Prof. Dr. Yvonne Görlich erfahren Sie hier.
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